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Meine Schwester

 

Mutter hat ihre Vorstellungen.
Faltenrock, ja keine Jeans.
Sie meint es gut.

Tochter Lisa geht
ihren eigenen Weg.
Mit Drogen oder ohne Drogen,
sie entspricht nicht
den Vorstellungen ihrer Mutter.

Sohn Hubert steht dazwischen.



  Vorbild
Fussball
LustFrust
Rebellion
Obrigkeit
DrogenAids
Muttergefühle
BruderSchwester
Sonntagskleider
BehütenLoslassen
JasagerNeinsager
GehorsamWiderstand

Walter Meier: «Meine Schwester»
178 Seiten, 25
CHF



Leseprobe - oder hier als PDF mit Bild

2__ DIE SCHÜTZENDE HAND

Donnerstag, 13.7.72
Hey Hubert,
ich denke, du weißt, dass ich am Dienstag entlassen worden bin. Nun, es geht mir besser. Viel kann man ja in meinem Fall nicht tun. Ich schlafe nun in deinem Bett, übrigens sehr gut! Ich denke, du brauchst einige Überwindung, um diese Zeit durchzustehen. Ich, an deiner Stelle, würde sie wohl nicht aufbringen. Eigentlich gibt es nichts Neues, deshalb hier eine kleine Geschichte von mir:


Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Die waren ganz arm. Sie konnten nicht in die Ferien fahren wie alle andern, aber sie waren auch nicht traurig deswegen. Sie freuten sich, dass alle Leute abreisten, mit all den stinkigen Autos, den lauten Töffs. Und da so viele, Männlein, Weiblein und Kinder in heisse Länder fuhren, schloss man die Geschäfte. Man machte eine Bekanntmachung, dass ab dem 23. August alles geschlossen bleibt, vier Wochen lang. Banken, Warenhäuser, Molkereien, Bahnhöfe, Früchtehandlungen. Einfach alles. Da dachten der Mann und die Frau, dass sie dann ganz alleine sind. Schnell kauften sie Würste und Knäckebrot. Eine Kuh erstanden sie auch noch, wegen der Milch, die ist ja lebenswichtig! Und noch etwas kauften sie. Zwei Sombreros. Riesig grosse, gestreifte,
runde Sombreros. Dann warteten sie, bis alle Leute abreisten. Am Abend, als alle Strassen leer waren, die Häuser mit geschlossenen Fensterläden stumm dastanden, keine Automobile mehr umherpufften, alles ausgestorben und leer war, zog sich der Mann splitternackt aus. Seine Frau natürlich auch. Dann setzten sie sich die beiden Sombreros auf die Köpfe und spazierten durch die Stadt. Sie hatten es richtig lustig miteinander. Es war ein heisser Abend und sie froren überhaupt
nicht. Niemand begegnete ihnen. Sie hatten Ruhe und Frieden und an den heissen, drauffolgenden Wochen spendete ihnen der Sombrero zünftig Schatten.


Beim Durchlesen der Zeilen erinnert sich Hubert an früher. Gepackt haben sie ihn, den ängstlichen Knirps, mehr als einmal. Angebunden haben sie ihn an einen Baumstamm, am Rande des nahen Tannenwaldes. Den Mund vollgestopft mit einem Taschentuch. Allein, gefesselt, im Alter von sieben oder acht Jahren. Unfähig, sich zur Wehr zu setzen. Ein willkommenes Opfer für die Rasselbande aus dem benachbarten Quartier. Kein Winnetou, kein Old Shatterhand, nicht mal Ivanhoe, der Rächer der Armen und Enterbten, macht Anstalten, den kleinen Hubi aus seiner misslichen Lage zu befreien. Wie ein Geschenk des Himmels erscheint ihm in solchen Situationen der Auftritt seiner Schwester. Weder Tod noch Teufel fürchtend, wühlt sie sich durch die Schar der hämischen Lauselümmel. Unerschrocken geht sie ihren Weg. Kein Gedanke an eigene Verluste. Losbinden, befreien, ab durch die Mitte. Hubi klammert sich an ihre starke Hand. Gerettet. Durchsetzungsvermögen und Selbstvertrauen waren nicht sein Ding. Sie hatte beides, weiss Gott woher.

Luzern, 1.8.72
Hallo Hubert,
müsst ihr heute, am 1. August, Ansprachen und Feiern ertragen? Nun ja, vielleicht ist es gar nicht so schlimm, da ihr wenigstens für einige Stunden aus eurer trüben Tagesmonotonie ausbrechen könnt - in eine andere Monotonie. Was soll’s, bald ist wieder Samstag. Du freust dich bestimmt. Wir alle freuen uns auch, jeder auf seine Art. Tschüss, erträgliche Tage noch und liebe Grüsse, Lisbeth


Jeder freut sich auf seine Art. Grossmutter, Mutter, Vater, Lisbeth. Wie soll das der uniformierte Sonderling verstehen? Zeit hat er mit Bestimmtheit genug, diesen verschlüsselten Satz zu enträtseln. Wie auch immer, die Worte seiner Schwester berühren ihn wenig. Viel mehr grübelt er darüber nach, mit welcher Strategie er sich der drohenden Unteroffiziersschule entziehen kann. Kein einfaches Unterfangen. Als Seminarist, als zukünftiger Pädagoge ist er mit Bestimmtheit prädestiniert, die militärische Karriereleiter emporzusteigen.